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Gestalttheoretische Psychotherapie

DDr. Dieter Zabransky

Die Anwendung der Gestalttheorie im klinisch-psychotherapeutischen Bereich reicht bis in die 1920er Jahre zurück 1). Die Gestalttheoretische Psychotherapie im engeren Sinn und unter dieser Bezeichnung ist im deutschsprachigen Raum in den 1970er-Jahren von Hans-Jürgen P. Walter und seinen klinisch tätigen Kolleginnen und Kollegen in der „Gesellschaft für Gestalttheorie und ihre Anwendungen (GTA)“ inauguriert worden.

Auf Grundlage ihres ausgearbeiteten erkenntnistheoretischen Standortes (Kritischer Realismus) bietet die Gestalttheorie als Metatheorie die Möglichkeit der methodischen Integration unterschiedlicher psychotherapeutischer Ansätze (Walter 1994). Auf der Grundlage einer kritisch-realistischen Haltung geht es in der Therapie darum, sich vorbehaltslos auf die Erlebnisniswelt des Klienten einzulassen. Gemäß der Gefordertheit der Lage soll die Fähigkeit zu sachlichem und situationsgemäßem Handeln gefördert werden. Wolfgang Metzger bezieht sich dabei auf die Überwindung der Ich-Haftigkeit im Kontakt zu anderen Menschen, im besonderen auf die Geltungssucht und die Ich-Bezogenheit. Mit zunehmender Fähigkeit, einerseits eigene Bedürfnisse adäquat äußern zu können und andererseits von ich-haftem Verhalten absehen zu können, erhöht sich die Beziehungsfähigkeit und damit auch die Fähigkeit, sich als Teil einer Gemeinschaft zu verstehen und aus diesem Verständnis heraus zu handeln. Der Gruppe als therapeutischem Medium kommt von daher eine zentrale Bedeutung zu (Wir-Tendenz).

Die konkrete Aufgabe des Gestalttheoretischen Psychotherapeuten liegt darin, für den psychotherapeutischen Prozess förderliche Randbedingungen herzustellen. Es gilt, die Eigenart des Lebendigen zu berücksichtigen, so dass im Umgang mit Menschen schöpferische Kräfte zur Entfaltung kommen können. Walter (1994) beschreibt in einer Weiterentwicklung der Gedanken Metzgers (1962) die Therapiesituation als einen Ort schöpferischer Freiheit.

In der psychotherapeutischen Arbeit sollen widersprüchliche und abgespaltene Persönlichkeitsanteile bewusst gemacht und ihre Reintegration in die Gesamtpersönlichkeit gefördert werden. Durch das gegenwärtige Erleben in der Therapiesituation und durch die Reflexion des Erlebens werden neue Einsichten möglich (Kraftfeldanalyse). Der Gestalttheoretische Psychotherapeut gibt Anstöße zur Umstrukturierung und Umzentrierung des psychischen Feldes des Klienten, welche die Fähigkeit der Feldkräfte zur Selbstregulation (Tendenz zur guten Gestalt) erhöhen und den Lebensraum differenzierter und prägnanter werden lassen.

Vielfältige Arbeits- und Interventionsformen können in der Einzel- und Gruppentherapie je nach Therapiesituation dazu eingesetzt werden, um im „Hier und Jetzt“ hemmende oder störende Gefühle, Vorstellungen und Gedanken bewusst und prägnant zu machen. Der Klient vermag insbesondere durch die Identifikation mit weniger vertrauten Aspekten seines Lebensraumes neue Einsichten zu gewinnen (etwa mit Hilfe der "Arbeit mit dem leeren Stuhl" und ähnlicher Arbeitsweisen2)). Die gestalttheoretisch-psychotherapeutische Arbeitsweise ermöglicht z.B. eine „phänomenale Aufspaltung“ eines Problems, welche etwa in der Aufforderung an den Klienten bestehen kann, einen Dialog zwischen widersprüchlichen Persönlichkeitsanteilen (Polaritäten) zu führen.

Entsprechend dem Verständnis der Zeitperspektive Kurt Lewins und des Hier-und-Jetzt-Prinzips von Fritz Perls ist in der Gestalttheoretischen Psychotherapie die historische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht das primäre Ziel. Erinnerungen an vergangene Erlebnisse, die das freie Erleben und Handeln im Hier-und-Jetzt behindern und dadurch den Blick auf Gegenwart und Zukunft verstellen können, gehören aber selbstverständlich zum Hier-und-Jetzt („systematischer Ursachenbegriff“). Es gilt, im Psychotherapieprozess (Dreiphasen-Modell) die Hintergründe für blockierende Befürchtungen und Ängste im Lebensraum des Klienten zu klären, um dem „Prinzip Hoffnung“ (Bloch) wieder zum Durchbruch zu verhelfen, so dass er zunehmend dazu in der Lage ist, sich seiner Situation aufrichtig zu stellen, realistische Ziele zu entwickeln und seine Kräfte und Fähigkeiten im Sinn der Selbstregulation und Selbstorganisation zu entfalten.

Literatur:

Kästl, Rainer & Gerhard Stemberger (2005): Gestalttheorie in der Psychotherapie. Journal für Psychologie, 13(4), 333–371.

Köhler, Wolfgang (1968): Werte und Tatsachen. Heidelberg-Berlin-New York.

Lewin, Kurt (1963/2012): Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Berlin. Neuauflage 2012.

Metzger, Wolfgang (1962): Schöpferische Freiheit. Frankfurt/M.

Stemberger, Gerhard (2014): Gestalttheoretische Aspekte der "Arbeit mit dem leeren Stuhl". Phänomenal 6(1), 30-38.

Walter, Hans-Jürgen (1977): Gestalt-Therapie, ein psychoanalytischer und gestalttheoretischer Ansatz. Gruppendynamik, Nr. 1.

Walter, Hans-Jürgen (1984): Was haben Gestalt-Therapie und Gestalttheorie miteinander zu tun? Gestalt Theory, Vol. 6.

Walter, Hans-Jürgen (1994): Gestalttheorie und Psychotherapie. Zur integrativen Anwendung zeitgenössischer Therapieformen. 3. Auflage. Opladen.

Wertheimer, Max (1991): Zur Gestaltpsychologie menschlicher Werte. Hg. H.-J. Walter. Opladen.

1)
Siehe zur Geschichte dieser psychotherapeutischen Anwendungen Kästl & Stemberger 2005.
2)
Die „Arbeit mit dem leeren Stuhl“ ist dem Psychodrama und der Gestalt-Therapie entlehnt. Zum gestalttheoretischen Verständnis dieser Arbeitsweise siehe Stemberger 2014.
gestalttheoretische_psychotherapie.1483455199.txt.gz · Zuletzt geändert: 12.03.2024 13:25 (Externe Bearbeitung)