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Ethik und Gestalttheorie

Beate Weitkemper, Soest

Wolfgang Köhler: "Werte und Tatsachen"

Köhlers Buch „The place of value in a world of facts“ (1938; deutsch: Werte und Tatsachen 1968) ist eines der zentralen Werke auch zur gestalttheoretischen Ethik. Hier zeigt Köhler, dass der wissenschaftliche Ansatz der Gestalttheorie Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, insbesondere Physik und Philosophie, in fruchtbarer Weise miteinander zu verbinden vermag, so dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit zentralen menschlichen Fragen nach Sinn, Wert, Geschichte usw. möglich wird.

Köhler weist in seinem Buch nach, dass Werte in ihrem Gewicht und ihrer Bedeutung naturwissenschaftlich allgemein anerkannten Tatsachen nicht nachstehen, dass Werten ein vergleichbarer Rang zusteht. Er veranschaulicht, dass Werte und Tatsachen auf dem Hintergrund des Kritischen Realismus und eines feldtheoretisch-dynamischen Ansatzes sowohl in der erlebten, phänomenalen Welt als auch in der transphänomenalen, physikalischen Welt existieren und dass diese beiden Welten entsprechend dem Isomorphieprinzip auf das engste miteinander verbunden, also strukturell in vielerlei Hinsicht gleichgestaltig sind. Die Welt der Physik und die Welt der Philosophie liegen für Köhler also viel näher zusammen, als die Vertreter dieser Disziplinen üblicherweise zu glauben scheinen.

Während Köhler den Geisteswissenschaftlern vorwirft, vielfach den Bezug zu Fragen der konkreten Lebenswirklichkeit verloren zu haben und sich mit Schrebergärtnermentalität auf genau abgezirkelte „Äcker„ zu beschränken, wirft er den Naturwissenschaftlern seiner Zeit v.a. ihren Materialismus, Atomismus, Positivismus und Reduktionismus vor, die z.B. in Darstellungen gipfelten, die zeigen sollen, dass ein Mensch nicht mehr als ca. 63 Dollar wert sei, so viel nämlich, wie man für seine chemischen Bausteine Stickstoff, Wasserstoff usw. bezahlen müsste. An der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Werteproblem bemängelt Köhler v.a., dass Werte einseitig in einer idealen Welt (Platon), im menschlichen Geist (Kant) oder beschränkt auf die Welt der Mathematik bzw. Logik (Husserl) angesiedelt wurden und nicht in ihrer engen Bezogenheit auf Tatsachen gesehen wurden.

Kritischer Realismus als Zugang zum Werteproblem

Köhler wählt als Zugang zum Werteproblem den erkenntnistheoretischen Ansatz des Kritischen Realismus:

Dieser beinhaltet eine klare Unterscheidung zwischen der erlebten sog. phänomenalen Welt (Wirklichkeit im zweiten Sinne nach Metzger) und der erlebnisjenseitigen, physikalischen sog. transphänomenalen Welt (Wirklichkeit im ersten Sinne nach Metzger). Während die phänomenale Welt die Ebene des alltäglichen Erlebens meint, die der Erfahrung unmittelbar zugänglich ist, handelt es sich bei der tranphänomenalen Welt um eine nur indirekt zugängliche Welt. Entsprechend diesem erkenntnistheoretischen Dualismus muss auch klar unterschieden werden zwischen dem Organismus als transphänomenalen, physikalischen Gebilde und dem Körper-Ich als Wahrnehmungsgegenstand innerhalb der phänomenalen Welt. Das psychophysische Niveau wird als entscheidende Schnittstelle zwischen diesen beiden Welten postuliert, ein hypothetischer Ort im Gehirn, der Wahrnehmung letztlich erst ermögliche. Wichtig ist, dass phänomenal verstanden, sich das Körper-Ich als abgegrenzter Teil in einer Umwelt erlebt (vgl. Feldtheorie Lewins), während sich das Erleben physikalisch betrachtet innerhalb des physikalischen Organismus, vermittelt über sog. psychophysische Prozesse im Gehirn, abspielt. Die beiden Welten sind also über diese Prozesse und das zugrundegelegte Isomorphieprinzip (siehe unten) miteinander verbunden.

Werte und Interesse

Werte sind nach Köhler nun keine Produkte bloßer Gewöhnung, sie meinen mehr als Ausdrücke wie „nützlich“ oder „zweckmäßig„, die mit ihnen verbundenen Gefordertheiten richten sich nicht danach, ob etwas für das Individuum angenehm oder unangenehm ist (dies wird am krassesten durch die Tatsache deutlich, dass einige Menschen sogar bereit sind, für sie zu sterben).

Dem Werteproblem könne man sich am ehesten über den Begriff des Interesses annähern. Phänomenologisch betrachtet lassen sich nämlich sogenannte „reine Tatsachen“ (z.B. in der Arktis liegt Schnee) von Tatsachen unterscheiden, die mit Werten verbunden sind (sog. „selektive Tendenzen“). Diesen Wert erlangen Tatsachen durch eine besondere Bezogenheit, hier durch ein besonderes Interesse, z.B. das Interesse einer Person an einem Gegenstand. Konkret: „Ich interessiere mich für Bücher. Bücher sind für mich von Wert.“ In diesem phänomenalen Sinne sind Werte unmittelbar dem individuellen Erleben zugänglich, d.h. sie sind phänomenale Tatsachen. Durch das Interesse entsteht ein phänomenaler Zusammenhang zwischen der Person und den Büchern. Mathematisch ausgedrückt geht im Wahrnehmungsfeld ein Vektor, eine gerichtete Kraft vom Ich aus hin zu dem Wahrnehmungsgegenstand Buch. Durch diese Bezogenheit erhält dieser Wahrnehmungsgegenstand die Werteigenschaft „wertvoll“.

"Gefordertheiten"

Solche Vektoren, die von Teilbeständen bestimmter Zusammenhänge ausgehen, über diese Teile hinausweisen und andere Teile ablehnen oder akzeptieren, bezeichnet Köhler als Gefordertheiten. Es geht also, anders formuliert, um die Wirkung einer erlebten Lücke innerhalb eines bestimmten Zusammenhangs, wobei die Lücke nur durch ein bestimmtes Teil /bestimmte Teile des Wahrnehmungsfeldes gefüllt werden kann (z.B. eine Krawatte, die zu einem bestimmten Anzug passen soll). Solche Gefordertheiten gibt es in unterschiedlichen Zusammenhängen, z.B. auch beim Denken (Produktives Denken) oder bei den allgemeinen Gestaltprinzipien der Wahrnehmung (z.B. Tendenz zur guten Gestalt, zur Geschlossenheit usw.) Ein Vektor muss aber nicht vom Ich ausgehen, er kann ebenso von einer anderen Person (z.B. einem Verkehrspolizisten), von einer noch zu erledigenden Aufgabe usw. ausgehen. Dann wird das Ich zum Objekt, auf das sich der Vektor richtet. Gefordertheit hat also einen Platz innerhalb der phänomenalen Welt. Aber nicht nur dort: Gefordertheit gibt es auch in der transphänomenalen Welt.

Um diese Behauptung zu belegen, zeigt Köhler zunächst an einem verblüffenden Beispiel, dass transphänomenale Tatbestände existieren: Jemand versucht, sich an den Namen eines bestimmten Malers zu erinnern, dieser liegt ihm quasi schon „auf der Zunge“. In diesem Zusammenhang ist die Gefordertheit der bestimmte Name, und dieser Name, das richtige Ding, liegt noch außerhalb der erlebten phänomenalen Welt, es weist über diese hinaus. Es gibt also eine spezifische Bezogenheit zwischen der phänomenalen und der transphänomenalen Welt.

Diese Bezogenheit ist den wenigsten Naturwissenschaftlern bewusst: Auch das modernste Messgerät muss ja abgelesen werden (d.h. es bleibt der Wahrnehmungsprozess eines Menschen notwendig) und dem Messvorgang selbst liegen letztlich Wahrnehmungserfahrungen aus der phänomenalen Welt zugrunde, sonst wüsste man ja gar nicht, was man überhaupt gerade misst; alle physikalischen Symbole beruhen letztlich auf Wahrnehmungserfahrungen.

Isomorphie-Annahme

Köhler geht von der Isomorphie, d.h. von einer starken strukturellen Übereinstimmung, zwischen phänomenaler und transphänomenaler Welt aus. Dies meinte schon Goethe mit „Wär' nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt' es nicht erblicken…“. Diese strukturellen Gemeinsamkeiten sind zumindest auf der makroskopischen Ebene, d.h. bei der Berücksichtigung größerer Zusammenhänge und Felder, evident.

Diese Isomorphie zwischen transphänomenaler und phänomenaler Wirklichkeit belegt Köhler anhand zahlreicher empirischer Beispiele.

Die Gedächtnisspuren interessieren ihn als Beispiel für makroskopische physikalische Zustände. Diese tendieren laut Ernst Mach zu Stabilität und Ordnung. Entsprechend organisieren sich auch die Gedächtnisspuren im Gehirn. Nach Wertheimer wird das Wahrnehmungsfeld in vergleichbarer Weise nach den Prinzipien Einfachheit und Klarheit (Prägnanztendenz) organisiert, so dass z.B. Gesichter symmetrisch erscheinen, obgleich sie es nicht sind. Da Gedächtnisspuren also physikalische Gebilde sind und solche auch zu bestimmten phänomenalen Zusammenhängen passen oder nicht passen können (wie der Name des Malers), folgert Köhler, dass auch physikalische Tatsachen Gefordertheiten aufweisen können.

Bezogen auf den physischen Organismus ist laut Köhler nicht klar zu entscheiden, ob dessen Funktionieren auch durch Gefordertheiten bestimmt ist oder nicht. Jedenfalls tritt er klar für das Modell der Selbstregulation des Organismus (vgl. Goldsteins Organismische Theorie) anstelle des gängigen Maschinenmodells ein.

Er geht davon aus, dass mit der vom Individuum erlebten Gefordertheit (z.B. Konfrontation bei der ausgestreckten Hand eines Bettlers) auch eine entsprechende kortikale Spannungsveränderung innerhalb des betreffenden kortikalen Kraftfeldes einhergeht. Wird einem Lebewesen die Gefordertheit einer Situation bewusst, so erlangt es Einsicht und kann entsprechend handeln. Lernen geschieht nach Köhler auf diesem Wege; er konnte einsichtiges Lernen sogar bei Schimpansen nachweisen. Einsicht spielt natürlich beim ethischen Denken und Handeln eine wichtige Rolle (Produktives Denken)

Zusammenfassend lässt sich sagen: Eine Spaltung in eine Wertewelt und eine Tatsachenwelt, verbunden mit strikter Trennung der entsprechenden wissenschaftlichen Disziplinen, erscheint verfehlt. Vielmehr führt eine klare Unterscheidung zwischen phänomenaler und transphänomenaler Welt weiter. In beiden Welten gibt es selektive Tendenzen und bloße Tatsachen, und beide sind aufgrund des Isomorphieprinzips eng miteinander verknüpft. Wissenschaftler sollten daher den Menschen selbst als unverzichtbaren Teil eines jeden Forschungsprozesses anerkennen, statt zu versuchen, ihn krampfhaft auszusparen (was ja ohnehin unmöglich ist). Ein solche Wissenschaft wäre dann auch in der Lage, sich mit zentralen menschlichen Fragestellungen nach Sinn, Wert, Geschichte usw. empirisch auseinanderzusetzen.

Siehe auch:

Literatur:

Henle, Mary (1984): Isomorphism: Setting the record straight. Psychological Research, 46, 317–327. Köhler, Wolfgang (1938/1968): The Place of Value in a World of Facts. New York: Liveright 1938 (dt: Werte und Tatsachen. Berlin: Springer 1968). Luchins, Abraham S. & Edith H. Luchins (1999): Isomorphism in Gestalt Theory: Comparison of Wertheimer's and Köhler's Concepts. Gestalt Theory, 21(3), 208-234.

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