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Variabilität und Konstanz, anschauliche

Edwin Rausch (1906-1994)1)

Gemeint ist Variabilität und Konstanz im rein phänomenologischen Sinn, also in analoger Weise, wie etwa von phänomenaler Kausalität oder Identität gesprochen wird. Es handelt sich also nicht um die Variabilität und Konstanz von Phänomenen, sondern um die Phänomene Variabilität und Konstanz selbst [Rausch 1949, 70].

Beispiele: Angenommen, es besitze jemand eine Wohnung mit sehr niedrigen Räumen und habe die Absicht, einen Schrank zu kaufen, der hineinpasst; dann wird es sich darum handeln, einen solchen zu erwerben, der nicht zu hoch ist (Zimmer = anschauliche Konstante, Schrank = anschauliche Variable). Besitzt man umgekehrt einen sehr hohen Schrank und sucht eine Wohnung, so wird an diese die Forderung zu stellen sein, dass ihre Räume nicht zu niedrig oder hoch genug sind (Schrank = anschauliche Konstante, Zimmer = anschauliche Variable) [70-72].

Als Glieder des VK-Verhältnisses kommen noch andere Möglichkeiten in Betracht, etwa wenn der Schrank in ästhetischer Hinsicht als zu hoch oder als übermäßig breit erscheint. Auch hier liegt eine zweigliedrige Relation vor, nur nicht wie im erwähnten Beispiel eine Relation zwischen zwei dinglichen Gegenständen (Schrank und Zimmer) in Bezug auf eine Dimension (Höhe), sondern eine Relation zwischen zwei Dimensionen (Höhe und Breite) eines dinglichen Gegenstandes (Schrank). Im einen Fall (Schrank ist zu hoch) ist die Breitendimension als anschauliche Konstante angesprochen, die Höhe als anschauliche Variable. Im zweiten Fall (Schrank ist zu breit) ist es umgekehrt [82f].

Sagt man, der Schrank sei „zu hoch“ und meint das im ästhetischen Sinn, so ist es eine Abkürzung für ausführlichere Wendungen, wie „zu hoch bei dieser Breite“ oder „zu hoch im Verhältnis zur Breite“. Diese ausführlicheren Wendungen zeigen ausdrücklich, was in dem bloßen „zu hoch“ nur implizit liegt, dass es sich um eine anschauliche (zweigliedrige) Relation handelt. Das in der abgekürzten Wendung („zu hoch“) sprachlich unterdrückte Glied der Relation (die Breite) ist also das konstante, das akzeptierte, an dem nichts ausgesetzt wird; das sprachlich ausdrücklich gesetzte Glied (die Höhe) ist das variable. Die sprachliche Unterdrückung des konstanten Hintergliedes einer Relation findet sich übrigens auch in den Beispielfällen, wo es sich um eine Relation von zwei relativ selbständigen Gebilden (Schrank und Zimmer) handelt. Man kann dann etwa sagen, dass der zu kaufende Schrank zu hoch sei, ohne dazuzusetzen: für unsere Wohnung [87]

Die verkappte Relation in „zu hoch“ usw. wird wenigstens durch das „zu“ noch angedeutet. Es wird aber auch das „zu“ häufig noch weggelassen. Damit ist dann der Übergang von der Relation zur Eigenschaft vollzogen [87f].

Für den VK-Dualismus besteht eine Analogie zum Figur-Grund-Verhältnis: Die Figur wird im Allgemeinen als Hauptsache imponieren, ist jedoch nur möglich auf einem Grund, der prior und vorgegeben erscheint, als anschaulich konstanter Träger der anschaulich wechselnden figuralen Gebilde auftritt. Die Figur ist das vergleichsweise variable, der Grund das vergleichsweise konstante Moment. Bei der Figur wird eher Veränderung, speziell Bewegung, erwartet (bekanntlich auch tatsächlich eher wahrgenommen) als beim Grund [108].

Anschauliche Variabilität und Konstanz ist schon in einfachen Wahrnehmungsvorgängen gegeben, erscheint als eine ursprüngliche Tendenz und ein elementares Moment der Anschauung. Die Stichwörter Struktur, Zentrierung, Gewichtsverteilung, Rangordnung, Figur-Grund, Bezugsystem, Aufmerksamkeit, Thematik, Abstraktion, Bewusstseinsgrade, Bewusstseinsumfang bezeichnen Probleme, auf welche dieses Kategorienpaar Anwendung finden kann [113].

Die Konstante kann unter Umständen einmal ihren Konstantencharakter verlieren und selbst zum Variablenwert werden, mit zuweilen sehr ausgeprägter Dynamik. Es kann auch ein Variablenwert zur neuen Konstanten werden. Mein Zimmer, meine Wohnung, zunächst unbestritten Konstante gegenüber Schränken, kann unter Umständen einmal „wackelig“ werden in der Konstantenrolle; etwa wenn sich die Gelegenheit ergibt, einen Schrank zu erwerben, der für das Zimmer zu hoch ist, andererseits aber so wertvoll, dass er geeignet ist, die Rolle der Konstanten zu übernehmen. Dann kann das Zimmer, die Wohnung, in die Rolle der Variablen gedrängt werden, ich kann zugunsten des Schranks an einen Wechsel der Wohnung denken [81f]. Als allgemeine Feststellung ergibt sich, dass die Konstanten nicht absolut sind; auch sie sind grundsätzlichen dem Wandel psychischen Geschehens unterworfen [82].

Literatur:

  • Rausch, Edwin (1949): Variabilität und Konstanz als phänomenologische Kategorien, Psychologische Forschung 23, 69-114.
1)
Das Stichwort wurde nach Zitaten aus Rausch 1949 von Gerhard Stemberger zusammengestellt, wobei eine geringfügige Redigierung erfolgte, um einen ungestörten Lesefluss zu ermöglichen. Für Zitierungen wird empfohlen, die angegebene Originalquelle heranzuziehen.
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