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phaenomenologie

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-====== Phänomenologie (im Bezug zur Gestalttheoretischen Psychotherapie) ====== +====== Phänomenologie ====== 
-//Ilse Zacher//+[EN: phenomenology]
  
-Unter Phänomenologie (griechisch phainomenon „SichtbaresErscheinung“logos „RedeLehre“versteht man die Lehre von dem, „was sich zeigt, das was einem Menschen unmittelbar erscheint“ (Goerlich 2000, 46). Im Sinn der philosophischen Phänomenologie wird der Begriff meist spezieller auf das von Edmund Husserl vertretene philosophische Ideengebäude bezogen.+Der Gestaltpsychologe Kurt Koffka sagt zur Phänomenologie
 +  * "Für uns bedeutet Phänomenologie eine möglichst unvoreingenommene und umfassende Beschreibung des unmittelbar Erfahrenen."(Koffka 2008171übersetzt aus Koffka 193573)
  
-Empirisches Fundament dieser Philosophie ist es, alles was sich uns in seiner „leibhaftigen Wirklichkeit“ darbietet, unvoreingenommen hinzunehmen. Die Gestalttheorie und ihrer therapeutischen Anwendung ist mit der Phänomenologie Husserls durch das gemeinsame Anliegen verbunden, 'zu den Dingen selbst' vorzustoßen und sich dabei nicht von ideologischen Begriffssystemen, Vorurteilen oder impliziten Theorien beirren zu lassen (Goerlich 2000, 46). Der Gestaltpsychologe Wolfgang Metzger versteht in diesem Sinne Phänomenologie als „vorurteilsfreie Wesensschau“Nämlich „das Vorgefundene einfach hinzunehmen, wie es istauch wenn es ungewohnt, unerwartet, unlogisch, widersinnig erscheint und unbezweifelten Annahmen oder vertrauten Gedankengängen widerspricht. Die Dinge selbst sprechen zu lassen, ohne Seitenblicke auf bisher Bekanntes, früher Gelerntes, `Selbstverständliches`, auf inhaltliches Wissen, Forderungen der Logik, Voreingenommenheit des Sprachgebrauches und Lücken des Wortschatzes. Der Sache mit Liebe und Ehrfurcht gegenüberzutreten, Zweifel, Misstrauen aber gegebenenfalls zunächst vor allem gegen die Voraussetzungen und Begriffe zu richten, mit denen man das Gegebene bis dahin zu fassen suchte“ (Metzger 2001, 12).+Wolfgang Metzger wird oft mit seiner Formulierung der phänomenologischen Forderung an den Forscher zitiert: 
 +  * "Das Vorgefundene zunächst einfach hinzunehmen, wie es istauch wenn es ungewohnt, unerwartet, unlogisch, widersinnig erscheint und unbezweifelten Annahmen oder vertrauten Gedankengängen widerspricht. Die Dinge selbst sprechen zu lassen, ohne Seitenblicke auf Bekanntes, früher Gelerntes, "Selbstverständliches", auf inhaltliches Wissen, Forderungen der Logik, Voreingenommenheiten des Sprachgebrauchs und Lücken des Wortschatzes. Der Sache mit Ehrfurcht und Liebe gegenüberzutreten, Zweifel und Mißtrauen aber gegebenenfalls zunächst vor allem gegen die Voraussetzungen und Begriffe zu richten, mit denen man das Gegebene bis dahin zu fassen suchte." (Metzger 2001, 12).
  
-In Husserls philosophischem Ansatz ist die Korrespondenz mit dem Begriff „Gestalt“ erkennbar. Seine transzendentalen Philosophie weist grundlegende Gemeinsamkeiten mit den von der Gestalttheorie vertretenen erkenntnistheoretischen Positionen des kritischen Realismus auf: Husserl betrachtet nicht die Welt an sich`, sondern das `Sich-Zeigen`der Welt. Das entspricht der Unterscheidung Metzgers „zwischen physikalischer oder erlebnisjenseitiger und anschaulicher oder erlebter Welt“.+==== Begriffsbedeutungen ====
  
-Erst im Spätwerk von Husserl bekommt die erlebnisjenseitige Welt Bedeutung. Diese erlangt sie durch die Gewissheit des Seins der AnderenDie Erinnerung an den Ort des Anderen hat auch in der psychotherapeutischen Arbeit ihren Platz – so etwa unterstützt durch die Arbeit mit dem leeren Stuhl in der Gestalttherapie und Gestalttheoretischen Psychotherapie. Dabei lässt sich der Umgang mit dem Anderen neu erleben, neu strukturieren, neu definieren.+Der Begriff Phänomenologie wird in der Psychologie allerdings uneinheitlich verwendetAngelehnt an Günther Kebeck & Manfred Sader 1984 lassen sich hier die folgenden Bedeutungen unterscheiden:
  
-Grundsätzlicher gefasst lässt sich sagen, dass Phänomenologie zu treiben Grundlage jeder Gestalttheoretischen Psychotherapie ist – nämlich „unbefangen sehen und Geschehenes achten“ (Metzger 2001S25).+a) Unter Phänomenologie kann eine philosophische Denktradition verstanden werden, die vor allem mit dem Namen Edmund Husserl (1859-1938) verknüpft ist. Husserl versuchteaus den Denktraditionen und Kategoriensystemen der Philosophie der Jahrhundertwende durch Rückwendung zur unmittelbaren Erfahrung auszubrechenUnter dem Leitbegriff einer unmittelbaren Wesensschau einer "naiven" Erfahrung "an die Sachen selbst", löste er eine Rückbesinnung auf die "unmittelbaren Wurzeln des Erlebens" aus.
  
-**Literatur:**+b) Zweitens kann unter Phänomenologie eine psychologische Arbeitsweise verstanden werden, bei der sich der Forscher im Wesentlichen auf eigene Phänomene oder die ihm indirektvermittelten Phänomene anderer Menschen bezieht.  
 + 
 +c) Ein dritter psychologischer Denkansatz, der sich ebenfalls phänomenologisch nennt, geht von der Prämisse aus, daß uns nur subjektive Phänomene zugänglich seien und wir uns deswegen grundsätzlich auf die subjektiven Phänomene des Menschen beschränken sollten. Diese Auffassung wird auch "Phänomenalismus" genannt. 
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 +d) Viertens kann ein psychologischer Denkansatz phänomenologisch genannt werden, der die systematische und thematische Zuwendung zu den Phänomenen des einzelnen Menschen als einen unter mehreren möglichen Zugangswegen zu psychologischen Sachverhalten ansieht und anerkennt. Für psychologische Forschung ist dies nach Auffassung von Kebeck und Sader der einzige legitime Ansatz. 
 + 
 +Die gestalttheoretische Phänomenologie-Auffassung ist mit der Phänomenologie Husserls nicht ident. So tritt die Gestalttheorie für eine Verbindung von empirischer Forschung und philosophischer Reflexion, von Phänomenologie und Physiologie ein, während Husserls Ideal eine „reine“ Phänomenologie und Erkenntnisforschung war (vgl. dazu Toccafondi 2011, 2015). Daneben gibt es noch eine Reihe weiterer Unterschiede (siehe dazu u. a. Henle 1979, Goerlich 2000, Tholey 2018). 
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 +==== Siehe auch ===== 
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 +  [[hauptbereiche|Die vier Hauptbereiche der Gestaltpsychologie]] (W. Metzger) 
 +  [[phaenomenologie_treiben|"Phänomenologie treiben" in der Psychotherapie]] 
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 +==== Literatur ==== 
 +  * Goerlich, Stefan (2000)[[http://gestalttheory.net/download/2000phaenomenologie.pdf|„Auf die ‚Sachen selbst‘ zurückgehen“ – Berührungspunkte zwischen philosophischer Phänomenologie und Gestalttheoretischer Psychotherapie.]] //Gestalt Theory, 22//(1), 45-60. 
 +  Henle, Mary (1979): Phenomenology in Gestalt Psychology. //Journal of Phenomenological Psychology, 10//(1), 1–17. 
 +  Kebeck, Günther & Manfred Sader (1984): [[http://www.gestalttheory.net/cms/uploads/pdf/GTH-Archive/1984KebeckSaderPhaenomenologischExperimentell.pdf|Phänomenologisch-experimentelle Methodenlehre. Ein gestalttheoretisch orientierter Versuch der Explikation und Weiterführung]]. //Gestalt Theory, 6//(3), 193-245. 
 +  * Koffka, Kurt (1935): //Principles of Gestalt Psychology//. New York: Harcourt, Brace and Company. 
 +  * Koffka, Kurt (2008): //Zu den Grundlagen der Gestaltpsychologie. Ein Auswahlband. Herausgegeben von Michael Stadler.// Wien: Krammer. 
 +  * Metzger, Wolfgang (2001): //Psychologie. Ihre Entwicklung seit der Einführung des Experiments//. 6. Auflage. Wien: Krammer. [Buchpreis 45,00 € -> [[mailto:info@oeagp.at|Bestellung bei der ÖAGP-Geschäftsstelle]]] 
 +  * Stemberger, Gerhard (2016): [[https://www.academia.edu/33793803/|Phänomenologie treiben]]. //Phänomenal - Zeitschrift für Gestalttheoretische Psychotherapie, 8//(1), 30-35. 
 +  * Tholey, Paul (2018): //[[https://www.academia.edu/35568300/|Gestalttheorie von Sport, Klartraum und Bewusstsein. Ausgewählte Arbeiten, herausgegeben und eingeleitet von Gerhard Stemberger]]//. Wien: Krammer. [Buchpreis 36,00 € -> [[mailto:info@oeagp.at|Bestellung bei der ÖAGP-Geschäftsstelle]]] 
 +  * Toccafondi, Fiorenza (2011): [[https://www.academia.edu/28361416/|Philosophie, Phänomenologie und Psychologie. Husserl und der “zeitgemäße Anachronismus” der Phänomenologie der Gestaltpsychologie.]] //Gestalt Theory, 33//(1), 57-68. 
 +  * Toccafondi, Fiorenza (2015): [[https://www.academia.edu/27273892/|Phenomenology, Science and Experience.]] //Dialogue and Universalism//, 4/2015, 51-60.
  
-Goerlich, Stefan (2000): "Auf die 'Sachen selbst' zurückgehen" - Berührungspunkte zwischen philosophischer Phänomenologie und Gestalttheoretischer Psychotherapie. //Gestalt Theory 22//(1) 45-60. 
  
-Metzger, Wolfgang (2001): //Psychologie. Die Entwicklung ihrer Grundannahmen seit Einführung des Experiments//. Wien: Krammer (6. Auflage) 
  
-Tholey, Paul (1989): Bewusstsein, Bewusstseinsforschung, Bewusst Sein. //Bewusst Sein, 1//(1), 9-24. 
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