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lebensraum

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Lebensraum

[EN: life space]

Gerhard Stemberger, Wien und Berlin

Zentraler Begriff auch in der Gestalttheoretischen Psychotherapie. Der Begriff Lebensraum geht auf Kurt Lewin zurück, der ihn synonym zu „psychologischer Raum“ und „psychologisches Feld“ verwendet.

Die Formel: V=F(P,U)

Lewin fasste Verhalten und Entwicklung des Menschen in seine berühmte allgemeine Formel V=F(P,U)=F(L): Verhalten und Entwicklung (V) sind demnach eine Funktion von Person (P) und Umwelt (U), die als wechselseitig abhängige Variable betrachtet werden. Der Lebensraum (L) eines Individuums ist die Gesamtheit dieser Faktoren (P,U), umfasst also alle das Verhalten eines Menschen zum gegebenen Zeitpunkt bestimmenden Kräfte. Mit Umwelt ist hier nicht etwa die physikalische Umwelt des Menschen gemeint, sondern seine psychologische (erlebte) Umwelt. Diese muss nach Lewin „funktional als Teil eines wechselseitig abhängigen Feldes - des Lebensraums - betrachtet werden, von dem die Person der andere Teil ist“ (KLW 4, 196).

Lewins Formel lässt sich auch schreiben: V = f(S), „Verhalten ist eine Funktion der psychologischen Situation“. Die Schreibweise V = f(P/U) statt einfach V = f(S) hat Lewin nur deshalb gewählt, weil in der Psychologie unter Situation meist nur die Umwelt der Person verstanden wird. Zur Erklärung psychischen Geschehens braucht es aber „Darstellungen der Gesamtsituation, d.h. des Zustandes der Person wie der Umwelt“ und „ Methoden, um Person und Umwelt in einheitlichen Ausdrücken als Teile einer Situation darstellen zu können“. Da Lewin in der psychologischen Terminologie keinen Situationsbegriff vorfand, der Person und Umwelt umfasst, führte er für diese verhaltensbestimmende dynamische Gesamtheit den Begriff des Lebensraums ein (vgl. Lewin 1969, 31).

Gesetzmäßigkeiten des Erlebens und Verhaltens

Lewin und seinen Schülern ging es bei der wissenschaftlichen Erforschung von Verhalten darum, die Funktion (F) zu bestimmen, die jeweils Verhalten und Lebensraum verbindet, also Gesetze des Verhaltens zu finden. Gesetze haben dabei lediglich die Stellung von Ableitungsprinzipien, gemäß denen tatsächlich eintretendes Geschehen aus den dynamischen Eigenheiten der konkreten Situation herzuleiten ist (Lewin, 1969, 30ff). Dazu liegen zahlreiche Forschungsarbeiten vor, etwa die einflussreichen Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie (vgl. Überblick bei Marrow 1977, s.a. Anspruchsniveau, Spannungssysteme, psychische Sättigung).

Die Bedeutung der Kenntnis allgemeiner Gesetzmäßigkeiten im Aufbau menschlicher Lebensräume für eine Theorie gezielten psychotherapeutischen Eingreifens hat auch Hans-Jürgen Walter herausgearbeitet. Walter fasst den Lebensraum als komplexes Figur-Grund-System bzw. als dynamisches „Baukasten-Konstrukt“ auf, das das Wirksamwerden der „Tendenz zur guten Gestalt„ in Verhalten und Entwicklung des Menschen zu erklären, zu verstehen und psychotherapeutisch zu nutzen erlaubt (1994, 82ff). Diese „Bausteine“ des Lebensraumes sind Person und Umwelt, Zeitperspektive und Realitäts-Irrealitätsebenen und die Deskriptionsdimensionen „Enge-Weite“, „Unordnung-Ordnung“, „Flüssigkeit-Rigidität“ und „Undifferenziertheit-Differenziertheit“.

Abbildung: Der Lebensraum auf zwei Entwicklungsstufen. Die obere Zeichnung stellt den Lebensraum eines jüngeren Kindes dar. Die untere Darstellung gibt den höheren Differenziertheitsgrad des Lebensraums eines älteren Kindes im Hinblick auf die gegenwärtige Situation, die Realitäts-Irrealitäts-Dimension und die Zeitperspektive wieder. K = Kind; R = Realitätsschicht = Irrealitätsschichten; Vg = psychologische Vergangenheit; ps Gg = psychologische Gegenwart; ps Zk = psychologische Zukunft. (aus Lewin 1963/2012, 279)

Die Dynamik der Vorgänge im Lebensraum wird vor allem von den Spannungssystemen der Bedürfnisse und „Quasi-Bedürfnisse“ (der Vorhaben, Vornahmen und angestrebten Zielen) des Menschen bestimmt sowie den Hindernissen und Bestärkungen, auf die seine Bewegung im Lebensraum stößt (vgl. Lindorfer & Stemberger 2012). Die psychotherapeutische Aufgabe besteht in diesem Sinn aus Sicht der Gestalttheoretischen Psychotherapie darin, mit dem Klienten den Zusammenhängen zwischen Bedeutungen und Beschaffenheiten seiner Lebensraumbereiche im ganzheitlichen Kontext seiner Existenz nachzuspüren (Phänomenologie treiben und Kraftfeldanalyse) und die Bedingungen zu erforschen und herzustellen, die erfolgreiche Prozesse der Klärung und Umstrukturierung ermöglichen.

Literatur:


Kurt Lewin: Feldtheorie in den Sozialwissenschaften Ausgewählte theoretische Schriften

2., unveränd. Aufl. 2012

395 Seiten | ISBN 9783456850764| Preis 34,95 Euro

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lebensraum.1627117251.txt.gz · Zuletzt geändert: 12.03.2024 13:25 (Externe Bearbeitung)