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Lebensraum

Dr. Gerhard Stemberger, Wien

Zentraler Begriff auch in der Gestalttheoretischen Psychotherapie. Der Begriff Lebensraum geht auf Kurt Lewin zurück, der ihn synonym zu „psychologischer Raum“ und „psychologisches Feld“ verwendet.

Lewin fasste Verhalten und Entwicklung des Menschen in seine berühmte allgemeine Formel V=F(P,U)=F(L): Verhalten und Entwicklung (V) sind demnach eine Funktion von Person (P) und Umwelt (U), die als wechselseitig abhängige Variable betrachtet werden. Der Lebensraum (L) eines Individuums ist die Gesamtheit dieser Faktoren (P,U), umfasst also alle das Verhalten eines Menschen zum gegebenen Zeitpunkt bestimmenden Kräfte. Mit Umwelt ist hier nicht etwa die physikalische Umwelt des Menschen gemeint, sondern seine psychologische (erlebte) Umwelt. Diese muss nach Lewin „funktional als Teil eines wechselseitig abhängigen Feldes - des Lebensraums - betrachtet werden, von dem die Person der andere Teil ist“ (KLW 4, 196).

Lewin und seinen Schülern ging es bei der wissenschaftlichen Erforschung von Verhalten darum, die Funktion (F) zu bestimmen, die jeweils Verhalten und Lebensraum verbindet, also Gesetze des Verhaltens zu finden. Gesetze haben dabei lediglich die Stellung von Ableitungsprinzipien, gemäß denen tatsächlich eintretendes Geschehen aus den dynamischen Eigenheiten der konkreten Situation herzuleiten ist (Lewin, 1969, 30ff). Dazu liegen zahlreiche Forschungsarbeiten vor, etwa die einflussreichen Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie (vgl. Überblick bei Marrow 1977, s.a. Anspruchsniveau, unerledigte Situation).

Die Bedeutung der Kenntnis allgemeiner Gesetzmäßigkeiten im Aufbau menschlicher Lebensräume für eine Theorie gezielten psychotherapeutischen Eingreifens hat Hans-Jürgen Walter herausgearbeitet. Walter fasst den Lebensraum als komplexes Figur-Grund-System bzw. als dynamisches „Baukasten-Konstrukt“ auf, das das Wirksamwerden der „Tendenz zur guten Gestalt„ in Verhalten und Entwicklung des Menschen zu erklären, zu verstehen und psychotherapeutisch zu nutzen erlaubt (1994, 82ff). Diese „Bausteine“ des Lebensraumes sind Person und Umwelt, Zeitperspektive und Realitäts-Irrealitätsebenen und die Deskriptionsdimensionen „Enge-Weite“, „Unordnung-Ordnung“, „Flüssigkeit-Rigidität“ und „Undifferenziertheit-Differenziertheit“. Die psychotherapeutische Aufgabe besteht in diesem Sinn aus Sicht der Gestalttheoretischen Psychotherapie darin, mit dem Klienten den Zusammenhängen zwischen Bedeutungen und Beschaffenheiten seiner Lebensraumbereiche im ganzheitlichen Kontext seiner Existenz nachzuspüren (Kraftfeldanalyse) und die Bedingungen zu erforschen und herzustellen, die erfolgreiche Prozesse der Klärung und Umstrukturierung ermöglichen.

Literatur:

  • Lewin, Kurt (1963/2012): Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Berlin. Neuauflage 2012: Verlag Huber.
  • Lewin, Kurt (1982): Feldtheorie. Bd. 4 der Kurt-Lewin-Werkausgabe (KLW). Bern-Stuttgart.
  • Lewin, Kurt (1969): Grundzüge der topologischen Psychologie. Bern-Stuttgart-Wien.
  • Marrow, Alfred J. (1977; 2002): Kurt Lewin - Leben und Werk. Stuttgart. Neuauflage 2002: Beltz Taschenbuch.
  • Walter, Hans-Jürgen P. (1994): Gestalttheorie und Psychotherapie. Zur integrativen Anwendung zeitgenössischer Therapieformen. 3. Auflage. Opladen.
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