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Gestalt-Therapie

Dr. Hans-Jürgen Walter

Die psychotherapeutischen Auffassungen und Methoden des in Berlin geborenen und über Holland (1933) und Südafrika (1934) in die USA (1946) emigrierten Psychiaters und Psychoanalytikers Fritz Salomon Perls (1893 - 1970) verdanken ihre gegenwärtige Bedeutung nicht zuletzt seiner bewussten Entscheidung, auf dem Namen „Gestalt-Therapie“ zu bestehen. 1951 veröffentlichte er mit anderen die bis heute ausführlichste Darstellung seiner Therapiemethode. Heute wird in Europa wie in den USA der Begriff „Gestalt“ eher mit Perls Gestalt-Therapie assoziiert als mit der Schulrichtung der akademischen Psychologie, auf die er sich beruft.

Aus der Sicht heutiger Gestalttheoretiker lässt sich zwar die therapeutische Praxis von Perls am besten gestalttheoretisch erläutern, ihnen scheint dies jedoch ebenso für eine Anzahl weiterer Therapierichtungen zu gelten (Walter 1977). Unbestreitbar ist, dass Perls die „Gestaltpsychologie der Berliner Schule“, der er sich nach Zusammenarbeit mit dem gestalttheoretisch orientierten Neurologen K. Goldstein (1926) und Begegnungen mit ihren Begründern W. Köhler, K. Lewin und M. Wertheimer in Berlin und Frankfurt/M. zugehörig fühlte, zur intensiven Auseinandersetzung mit Psychotherapie provoziert hat.

Ob Perls' Kritik an der Psychoanalyse S. Freud immer gerecht wird, ist umstritten. Zweifellos aber setzt er im Rahmen seiner Methode Akzente, die, wenn nicht als Abwendung von der Psychoanalyse, so als gelungene Integration psychoanalytischen und gestalttheoretischen Denkens gelten können (Hoeth 1980). In der Freudschen Praxis des Deutens anhand kindheitsbezogener Kausalitätskonstrukte sah er eine Behinderung therapeutischen Tuns. In Übereinstimmung mit dem phänomenologischen Ansatz der Gestaltpsychologie ging er zu einer gegenwartszentrierten Therapieform über („von der linearen Kausalität zum Prozessdenken, vom Warum zum Wie“, Perls 1974, 51). Mit der Abwendung vom Ursache-Wirkungs-Denken alter medizinisch naturwissenschaftlicher Prägung hin zum dynamischen System- und Feld-Denken verlagert sich für ihn das Neuroseproblem „vom medizinischen auf den erzieherischen Bereich“, sieht er die sogenannten „Neurosen“ als eine Störung in der gegenwärtigen Entwicklung an (1974, 36). Den von Freud so genannten „Wiederholungszwang des Neurotikers“ versteht er als wiederholten und prinzipiell lebenswichtigen Versuch, mit einer schwierigen „unerledigten Situation“ fertig zu werden. Die Bewältigung kann allerdings erst gelingen, wenn der Klient sie als gegenwärtige und damit als seinen gegenwärtigen Verhaltens- und Entscheidungsmöglichkeiten (Verantwortlichkeit) zugängliche Situation erkennt (Hier-und-jetzt-Prinzip).

Nach Perls führt der therapeutische Prozess durch Phasen, in denen sich der Klient in einer „Sackgasse“ gefangen wähnt, von Todesangst und Fluchtstreben erfüllt ist, bevor es zu Gefühlsausbrüchen in Trauer, Wut, Freude oder Lust kommt, die als Befreiung erlebt werden und sich gestaltpsychologisch als Auflösung relativer Isolierung (Abspaltung) von mehr oder weniger großen Bereichen im psychologischen Kraftfeld (Kraftfeldanalyse) des Individuums und Erhöhung der selbstregulativen Wechselwirkung zw. den Kräften in diesem Feld (Erinnerungen, Wünsche, Ziele usw.) auffassen lassen (Zeitperspektive). Unter Therapieerfolg versteht Perls, dass der Klient dem Hier-und-jetzt vorbehaltlos begegnet (Bewusstheitskontinuum) und so Unerledigtes unbehindert in den Vordergrund seines Wahrnehmens tritt, von ihm aktiv erledigt wird (Neuorientierung, Neuentscheidung) und neuen Erfahrungen im dialektischen Wechsel von Bewusstem und Unbewusstem Platz macht.

Die methodische Unterstützung besteht u.a. darin, dass der Therapeut dazu anleitet, besonders auf Polaritäten im gegenwärtigen Denken, Fühlen und Handeln zu achten und in Dialoge zwischen gegensätzlichen, eventuell unvereinbaren Zielen einzutreten. Insbesondere sobald sich solche Dialoge auf das chronisch Unausgesprochene zuspitzen, bleibt der Gestalt-Therapeut nicht „abstinenter“ Deuter; hier greift er ein (Doppeln). So konsequent der Therapeut den Klienten daran hindert, der Logik seines Dialogs zu entfliehen (vgl. auch „Technik des leeren Stuhls“), so sehr auch gehört es zu seinem Selbstverständnis, dem Klienten, der sich die Unerfüllbarkeit eines Wunsches oder ein Versagen eingesteht, in seinem Schmerz ein mitfühlender, solidarischer Partner zu sein. Hier wird deutlich, dass sich Methoden der Gestalt-Therapie nicht beschreiben lassen, ohne zugleich eine Haltung, ja Lebensphilosophie zu charakterisieren, dergemäß das therapeutische Bemühen stets darauf abzielt, im Klienten den zur Solidarität fähigen Partner zu entdecken und zu fördern.

Weiterentwicklungen der Gestalt-Therapie beziehen sich auf spezielle Anwendungsbereiche (Familientherapie, Kempler 1975; Kindertherapie, Oaklander 1981; Alkoholiker- und Drogenabhängigen-Therapie, Arbeit mit alten Menschen, Petzold 1974, 1977), auf verstärkte Nutzung des Mediums Gruppe (Gruppendynamik), auf Integration verwandter Ansätze (Cohn 1975, Petzold 1980, Walter 1977a, b, 1981). Seit die Gestalt-Therapie (etwa seit 1971) auch in Europa populär wurde, sind zahllose Ausbildungs-Institutionen entstanden, die z.T. von Gestalt-Therapie über „Urschrei“, bis „Rebirthing“ und „Tarot“ alles anbieten, was auf dem Therapie-„Markt“ Mode wurde. Zwischen Seriösem und Unseriösem lässt sich oft nur schwer unterscheiden. - Ausbildung und Weiterbildung werden für den gesamten Personenkreis angeboten, der psychotherapeutische Aufgaben zu erfüllen hat. Der „Sektion Psychotherapie“ in der „Gesellschaft f. Gestalttheorie und ihre Anwendungen e.V.“ (GTA) - wissenschaftliches Organ ist die Zeitschrift „Gestalt Theory“, Westdeutscher Verlag - hat die Aufgabe, Gestalt-Therapie explizit als Gestalttheoretische Psychotherapie zu begründen und weiterzuentwickeln. Dabei geht es um theoriegeleitete Integration verwandter Ansätze und neuer aus gestalttheoretischer Forschung hervorgegangener Techniken (z.B. Klartraumtechnik, Tholey 1980, 1981) in der Praxis. Methodenintegrativ ausgerichtet ist z.B. auch das „Fritz-Perls-Institut“ - wissenschaftlicher Leiter: H.G. Petzold, Herausgeber der Zeitschrift „Integrative Therapie“, Junfermann Verlag - , allerdings ohne sich dabei in erster Linie der Gestalttheorie verpflichtet zu wissen.

gestalt-therapie.1483033703.txt.gz · Zuletzt geändert: 12.03.2024 13:25 (Externe Bearbeitung)