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Gefordertheit der Lage

Gerhard Stemberger, Wien und Berlin, und Eva Wagner-Lukesch, Wolfsgraben

Die phänomenale Welt des Menschen ist in der Regel nicht „neutral“, sondern ist voller anziehender oder auch abstoßender Kräfte im Umfeld der Person, oft auch voller Kräfte in der Person selbst, die auf etwas hindrängen oder vor etwas zurückschrecken. Die dynamische Gesamtheit dieser „Aufforderungscharaktere“, wie das Kurt Lewin nennt, macht die Gefordertheit der Situation bzw. die Gefordertheit der Lage (Wolfgang Köhler) aus. Ob und wie der Mensch in den Situationen, in denen er sich befindet, diese Gefordertheit der Lage jeweils wahrnimmt und wie er sich dazu verhält, ist nicht nur für ihn selbst, sondern in der Regel auch für sein soziales Umfeld und seine Rolle im menschlichen Zusammenleben von größter Bedeutung. In der Gestalttheoretischen Psychotherapie wird es daher als grundlegend angesehen, die Klienten bei der Stärkung ihrer Fähigkeit und Bereitschaft zu unterstützen, die Gefordertheit ihrer Lage zu erkennen und darauf angemessen zu reagieren.

Der Gefordertheit der Lage “gehorchen” kann dabei auch heißen, momentan auf die Befriedigung von aktuellen Bedürfnissen zu verzichten, weil es die Gesamtsituation erfordert. In diesem Sinn definiert Metzger die “echte und wahre Freiheit” eines Handelnden: “Es ist nicht die Freiheit, Beliebiges, sondern die Freiheit, das Rechte zu tun” (1962, 75).

Die Gefordertheit der Lage ist ein phänomenaler Tatbestand im psychischen Gesamtfeld, das die Person ebenso wie ihre Umwelt mit einschließt. Von phänomenal objektiver Gefordertheit spricht man, wenn die Forderung vom Objektpol des Gesamtfeldes ausgeht, also von einer bestimmten Struktur und Beschaffenheit der Menschen und sonstigen Objekte in der Umgebung, mit denen der Mensch eben zu tun hat (z.B. er steht vor einem Not leidenden Menschen oder sieht sich einer Gefahr gegenüber) . Phänomenal subjektive Gefordertheit meint dagegen den Fall, wo die Forderung vom Subjektpol des Gesamtfeldes ausgeht (z.B. der Mensch hat das Bedürfnis, anderen zu helfen). In der Regel kommt es zu einem Zusammenspiel beider Arten der Gefordertheit.

In den meisten alltäglichen zwischenmenschlichen Situationen ist also die „Lage“, aus der die entsprechende Forderung entspringt, von der konkreten Situation und den Möglichkeiten der beteiligten Personen selbst nicht unabhängig. Vielmehr sind diese selbst Teil der Lage. Die Gefordertheit geht also nicht einseitig vom Objektpol aus, sondern von der Beschaffenheit des Gesamtfeldes, das auch die konkreten Subjekte mit einschließt.

Zu oft schwerwiegenden seelischen oder auch sozialen Konflikten kann es führen, wenn die Gefordertheit der Lage entweder unangemessen wahrgenommen wird (sei es z.B. die Not anderer oder auch die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten) oder wenn darauf unangemessen oder destruktiv reagiert wird. Auch können Diskrepanzen zwischen den phänomenal objektiven und den phänomenal subjektiven Gefordertheiten sowie den eigenen Ressourcen bestehen, die den Menschen in eine Notlage bringen und auch zum Ausgangspunkt der Entstehung psychischer Störungen werden können (vgl. dazu etwa Schulte 1924/2002 und Ruh 1996/2002).

Siehe auch:

Literatur:

gefordertheit_der_lage.1626778591.txt.gz · Zuletzt geändert: 12.03.2024 13:25 (Externe Bearbeitung)