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 ====== Figur/Grund ====== ====== Figur/Grund ======
  
-//Eintrag in Bearbeitung// +[EN: figure/ground]
-==== Die Figur-Grund-Differenzierung ====+
  
-Metz-Göckel 2008: "Die Figur-Grund-Differenzierung ist neben der Gruppierung und seinen Faktoren eines der wichtigsten Erkenntnisse der Gestalttheorie. In der Wahrnehmung gliedern sich FigurenDinge, Gegebenheiten aus und heben sich von einem Hintergrund ab. Viele der Forschungs- und Diskussionsbeiträge beziehen sich im Anschluss an die klassischen Studien von Rubin (1921) auf die Faktoren, die die Ausgliederung der Figur begünstigen. Diese sind Konvexität, Umschlossenheit, Symmetrie und geringe Größe (Wagemans, Elder, Kubovy, Palmer, Peterson, Singh & von der Heydt, 2012). +//Angelika BöhmWien//
  
-Außerdem wurden die besonderen Verhältnisse und Funktionen, in denen sich Figur und Grund unterscheiden, diskutiert. Die Figur wirkt gelegentlich gegenüber dem Grund als erhaben. Außerdem wirkt die Figur dinghafter und wird im Gedächtnis besser behaltenDamit hängt auch zusammenwas theoretisch von Bedeutung ist, nämlich die einseitige Begrenzung der Figur, d.h. nur die Figur hat Form, nicht der Hintergrund. Das zeigt sich nach Metzger (2001142) in dem Eindruck, dass der Grund hinter der Figur weiterzugehen scheint. Deutlicher wird die einseitige Begrenzung beim Ding im Raum (oder Medium)wobei der Raum durch das Ding ‚hindurchgeht‘ und natürlich keine Begrenzung hatFehlen Ding und Figurentsteht im Raum oder auf der Fläche kein Loch. Hintergrund oder Raum bzw. Medium sind auch meist athematisch.+==== Pionier der Figur-Grund-Forschung: Edgar Rubin ==== 
 +Das Begriffspaar Figur und Grund in seiner konkreten wahrnehmungspsychologischen Bedeutung geht auf die Forschungsarbeiten des dänischen Psychologen und Phänomenologen [[https://de.wikipedia.org/wiki/Edgar_Rubin|Edgar Rubin (1886-1951)]] über visuell wahrgenommene Figuren (19151921) zurückDas Begriffspaar meint mehr und etwas anderes als das alltagssprachliche „im Vordergrund sein“ oder „im Hintergrund sein“Gemeint sind vielmehr solche Fällewo man in der Wahrnehmung etwas als Figur erlebt, das sich – begrenzt von einer Kontur – von einem darunter liegenden, unter ihm durchgehenden Grund abhebtDieses „eins //auf// dem anderen“ unterscheidet solche Fälle also von Konstellationenwo zwei Bereiche als //nebeneinander// liegend wahrgenommen werden, als //aneinander angrenzend// oder //voneinander durch einen Abstand getrennt//.
  
-====Funktion des Hintergrrundes====+Rubin hat die [[phaenomenologie|Phänomenologie]] dieser Art von Figur/Grund-Erleben insbesondere im Bereich „allgemein mehrdeutiger Figuren, d.h. Figuren, von denen dieselben objektiven Teile bald als Figur, bald als Grund erscheinen können“ (Koffka 1925, 57), ausführlich untersucht. Eine der bei seinen Versuchen verwendeten Vorlagen ist als „Rubinscher Becher“ bekannt geworden. 
  
-Allerdings gibt es viele Belege dafür, dass dem Hintergrund gleichfalls eine Funktion zuzuweisen ist. Dabei zeigt sich, dass eine Figur ihren besonderen Charakter durch die Verankerungen in einem Grund hat, was bei der üblichen Lehrbuchbehandlung selten thematisiert wird. In wahrnehmungspsychologischen Abhandlungen werden aber gelegentlich Reizverhältnisse aufgeführt, bei denen offensichtlich ist, dass der Grund Einfluss auf die Wahrnehmung der Figur hat, z.B. sieht eine graue Figur auf dunklem Hintergrund heller aus als auf einem hellen, der sie dunkler erscheinen lässt. Die Farbe des Hintergrunds kann auch die Farbe der Figur beeinflussen; sie kann im grünen Umfeld rötlich, im gelben bläulich aussehen. Kontrastkräfte vergrößern die Helligkeits- und Farbunterschiede zwischen Fläche und Figur, wenn die Figur genügend abgesetzt ist (Metzger 1975, 287f.)Es können auch leichte Formveränderungen beobachtet werdenSo können die Seiten der Figur bei schraffiertem Hintergrund deformiert erscheinen (Metzger 1975102).+In der Gestaltpsychologie wurden die Untersuchungen Rubins sehr positiv aufgenommenMit Hilfe der eigenen Forschungsbefunde über die Gestalt-Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Wahrnehmung ließen sich die von Rubin beschriebenen Figur/Grund-Phänomene gut erklären und die Erforschung dieser Phänomene fruchtbar weiterführen (vglu.aEhrenstein, Koffka, Gottschaldt, Metzger, Wagemans).
  
-====Figur und Gestalt====+==== Eigenheiten von Figur und Grund ==== 
 +Wird etwas in der visuellen Wahrnehmung als Figur wahrgenommen, so werden dieser Figur meist folgende Eigenschaften zugeschrieben: hervortretend, relativ fest, nach außen abgegrenzt und geformt, die Aufmerksamkeit auf sich ziehend (Metzger 1950), zudem eindringlicher, fester, dinglicher als der Grund (Koffka 1925). Die Figur wirkt erhaben gegenüber dem Grund und wird besser im Gedächtnis behalten (Metz-Göckel 2014). Was sich für solche Figur-Wahrnehmungen als Grund eignet, ist demgegenüber in der Regel einfacher und chaotischer gestaltet (Koffka 1925), zurücktretend, relativ locker und nach der Figur hin nicht begrenzt, wirkt vielmehr als hinter der Figur durchgehend, mehr oder weniger unauffällig (Metzger 1950). Beim Sonderfall der „Kippfiguren“ (wie dem „Rubinschen Becher“) sind diese Eigenheiten so unentschieden gleichmäßig über das Feld verteilt, dass einmal der eine, dann wieder der andere Feldteil als Figur oder Grund wahrgenommen werden kann.
  
-Bisweilen wird die Figur als Gestalt charakterisiert. Zum Wesen dieser Gestalt gehört jedoch, daß der Grund, auf dem sie erscheint, funktional mitgegeben ist"Es gehört eben zum Wesen einer Figur, daß sie auf einem Grund liegtdaß sie aus einem Niveau herausragt, daß sie etwas Abgehobenes, Differenziertes gegenüber etwas Unbestimmtem oder weniger Bestimmtem darstellt" (Koffka).+Selbst bei der visuellen Wahrnehmung wird oft von "Figur auf Grund" gesprochenobwohl gar nicht von zweidimensionalen Sachverhalten die Rede ist, sondern eigentlich //**"Ding im Raum"**// gemeint ist. Tatsächlich kann eine Figur auch dreidimensional seindann ist ihr Bezugssystem nicht der Grund, sondern der Raum oder das Medium. [[https://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Heider|Fritz Heider]] hat deshalb die Erweiterung der Begriffe auf Ding und Medium vorgeschlagen (Heider 1927). In der Wahrnehmung der phänomenalen Umwelt ziehen Figuren – eigentlich: Sachverhalte mit der Gestaltqualität des Figürlichen – die Aufmerksamkeit stärker auf sich als Nicht-Figürliches.
  
-====Figur/Grund-Umschlag====  +Die konkrete Herkunft und Bedeutung des wahrnehmungspsychologischen Figur/Grund-Konzepts sollte also auch nicht vergessen werden, wenn man den Versuch unternimmt, es auf andere Wahrnehmungsbereiche als die visuelle von zweidimensionalen Figuren oder auch auf andere Bereiche des Erlebens zu übertragen. Darauf wird noch am Ende dieses Beitrags am Beispiel des Figur/Grund-Verständnisses in der [[gestalt-therapie|Gestalttherapie]]-Literatur eingegangen.
-(Funktionswechsel von 'Figur' und 'Grund')+
  
-Nach Edgar Rubin kann eine Figur bei geeigneter optischer Reizkonstellation und bei entsprechendem Verhalten der betrachtenden Person den Charakter eines Grundes annehmen; zugleich wird umgekehrt der Teil der Konstellation, der vorher Grund war, als Figur gesehen. Neben diesem Sonderfall gibt es jedoch auch eine andere Konstellation, in der man von einem solchen Funktionswechsel sprechen kann: Wenn nämlich bei einem gestaffelten Figur-Grund-Verhältnis das, was für die Figur den Grund abgibt, in einem Auffassungswechsel selbst wieder als Figur auf einem darunter (dahinter) liegenden Grund gesehen wird.+==== Figur/Grund als Bezugssystem ====
  
-//Beispiel bei Kurt Gottschaldt (1933)://\\  +In der Gestalttheorie nehmen die Figur-Grund-Phänomene einen Platz im übergeordnetenweit darüber hinausreichenden Bereich der [[bezugssystem|Bezugssysteme]]  ein: der Grund ist das Bezugssystem der Figur. In seinem Handbuchbeitrag zur Figuralwahrnehmung bezeichnet Metzger diese als „Sonderfall der Frage nach den Bezugssystemen“als das geläufigste Beispiel für die „merkwürdige Hierarchie des In-An- oder Auf-Seins“ von Teil-Feldern im Wahrnehmungsfeld (Metzger 1966, 693). „Welcher der aneinandergrenzenden Feldbereiche Figurcharakter annimmtbestimmt sich nach Gestaltgesetzendie mit den Gruppierungsgesetzen weitgehend übereinstimmen (Koffka 1935Metzger 1953, 1954)“ – er fasst diese Gesetze dort anschließend zusammen (ebenda715).
-Ein Kind steht (ähnlich wie bei den Anthropoidenversuchen Köhlers) vor der Aufgabe, sich Zugang zu einem Spielzeug zu verschaffen, das auf einem Teppich liegt, der bis an ein Gitter heranreicht, das ihm den direkten Zugang zum Spielzeug versperrt. Fürs erste ist hier das Spielzeug Figur auf einem Grund (dem Teppich)Um eine Lösung für dieses Problem zu findenmuß das Kind eben diesen Auffassungswechsel vollziehen könnenalso den Teppich als Figur auf seinem Grund (dem Bodenzu sehen: Erst dann kann auch der Teppich seine Funktion wechselnvon der 'Unterlage' zum 'Werkzeug'um das Spielzeug heranzuziehen (vgl. Gottschaldt 1933163ff). Es ist also die Fähigkeit erforderlichauch den Grund als funktionswichtig-zugehörig zu erfassen und einen entsprechenden Funktionswechsel herbeizuführen.+
  
-====Intentionale Strukturierungintentional-betonte Figurintentional-neutraler Grund==== +Schon im Bereich der visuellen Wahrnehmung können also vielfältige Bezugssysteme wirksam werdennicht selten auch mehrere ineinander verflochten. Wolfgang Metzger führt einige Beispiele andie schon früh erforscht wurden (2001, 156f; dort auch die genaueren Literaturangaben):  
-Von der phänomenalen Strukturierung des Feldes ist nach Gottschaldt (1933) die intentionale Strukturierung des Feldes zu unterscheiden. Beides sind Momente jedes lebendigen Wahrnehmungsvorganges (soweit er nicht im Laboratoriumsversuch auf eine eingeengte Situation beschränkt ist)+
  
-Erstes Moment (phänomenale Strukturierung): Die uns umgebenden Gegenstände stellen nicht nur eine Summe von Empfindungen und Emfindungskomplexenassoziativ verbunden mit Vorstellungendarsondern sind als bestimmte phänomenale Gestalten gegeben. Diese Gestalten erscheinen als spezifischevon einem 'Grund' abgehobenezusammengehörige Konfigurationen.+  * So wie der Grund zum Bezugssystem von figurhaft wahrgenommenen Sachverhalten wird, wird das anschaulich Umschließende bevorzugt zum Bezugssystem für das Umschlossene (Duncker 1928);  
 +  * das Beständige wird bevorzugt zum Bezugssystem für das Unbeständige, das Eindringliche für das Blasse, das anschaulich Senkrechte für das Waagrechte und Schräge (Oppenheimer 1935);  
 +  * die Randgebiete des Gesichtsfelds werden bevorzugt zum Bezugssystem für das Angeblickte (Duncker 1928);  
 +  * der Bodenauf dem sich etwas befindetoder der Trägeran dem sich dieses Etwas befindetwird bevorzugt zum Bezugssystem für dieses Etwas  (Oppenheimer 1935Duncker 1928);  
 +  * das anschaulich Wirkliche (feste und solide) wird bevorzugt zum Bezugssystem für das anschaulich Scheinhafte, Unstoffliche (Linschoten 1952)
  
-Zweites Moment (intentionale Strukturierung): Die Gruppierungendie normalerweise erlebt werdensind bei der biologischen Wahrnehmung in irgendeiner Weise sinnbezogen und heben sich als solche von einem "intentional-neutralen Grunde" ab.+Welches Bezugssystem bzw. welches Geflecht von Bezugssystemen in WahrnehmungErleben und Verhalten gerade wirksam wirdhängt also von der konkreten Sachlage ab und wie diese von der Person aufgefasst wirdNicht immer ist dabei eine  Figur-Grund-Abhebung das Bestimmende und auch nicht immer das der Situation Angemessene:
  
-//Beispiele bei Kurt Gottschaldt://\\  +==== Figur/Grund-Gliederung als "primitives" bezugssystem ==== 
-"Wenn ich vor einem Bücherregal stehe und ein bestimmtes Buch sucheso bildet die optische Gegebenheit des Regals eine phänomenale Gestalt von bestimmter Struktur. Ich sehe bestimmte Gruppierungen von Farben und Formenaus denen sich wieder einzelne Bücher durch ihre Farbe und Größe von den übrigen abheben. Aber das speziell gesuchte Buch, das gewöhnlich beim Suchen aus dem optischen Komplex der Reihe herausspringt, ist 'intentional betonte Figur' gegenüber dem 'intentional-neutralen Grundder übrigen Bücher" (84).\\  +Es gibt auch Fälle, wo die Figur-Grund-Gliederung nicht nur //ein// mögliches Bezugssystem neben vielen anderen ist, sondern zugleich auch das "schlechteste" oder "primitivste". Metzger (2001154f.) führt eine Reihe von solchen Beispielen an: das "ausgewählte Volk" (Figur) inmitten von Barbaren (Grund), der Gläubige (Figur) inmitten der Ungläubigen (Grund), die "klassischen" Kunststile (Figur) inmitten der "primitiven" Kunststile (Grund), der "im Grunde gute Mensch" mit ein paar Makeln bzw. der im Grunde schlechte Mensch mit ein paar wenigen Lichtpunkten. In solchen Fällen hat sich in der konkreten psychologischen Person-Umwelt-Situation der Betreffenden das Bezugssystem einer primitiven Figur/Grundbildung durchgesetzt gegenüber anderen Bezugssystemen, die eine differenziertere und humanere Sichtund Erlebnisweise ermöglichen würden (vgl. dazu auch die Abhandlung von Fuchs über destruktive Entwicklungen der therapeutischen Beziehung: Fuchs 2020).
-Oder:\\  +
-"Wenn sich in einem Spielfeld ein Ball, eine Puppe, ein Baukasten und vielleicht eine Lötlampe befinden, so wird der Dreijährige alle diese Gegenstände als irgendwie geformte phänomenale Gestaltkomplexe erleben, aber intentional-bezogene Glieder des Feldes sind nur Puppe und Ballwährend die Lötlampe und der Konstruktionsbaukasten als 'intentional-neutraler Grund' vorhanden sind. Bei einem Zehnjährigen kann es bis zu einem gewissen Grad umgekehrt sein" (ebenda).+
  
-Die Weite und Enge des psychischen Umfeldes erweist sich nun bis zu einem hohen Grade von seiner intentionalen Strukturierung abhängigDas Umfeld ist von dem Verhältnis der Aufforderungscharaktereden die wahrgenommenen Objekte auf uns ausübenzu der momentan beherrschenden Bedürfnisstruktur bestimmtGegenstände und Ereignisse, die zu einem [[spannungssystem|bedürfnisartigen Spannungszustand]] führen, bzwauf die ein solches Bedürfnis ansprichtenthalten '[[aufforderungscharakter|Aufforderungscharakter]]'Aufforderungscharakter und entsprechendes Bedürfnis sind also korrelative Begriffe (ebenda8283).+==== Unterschiede Bezugssystem und Teil/Ganzes-Beziehung==== 
 +Im Unterschied zur Beziehung zwischen dem Teil zum Ganzen kennzeichnet Bezugssysteme (und damit auch die Figur-Grund-Beziehung) die einseitige Begrenzung: „Nimmt man einen Teil aus einem Ganzen, so entsteht eine Lücke; nimmt man aber einen Gegenstand aus seinem Bezugssystem, so bleibt dieses grundsätzlich vollständig. Das optische Figur-Grund-Verhältnis … zeigt diese Beziehung nur in Annäherung; das Widersinnige der einseitigen Begrenzung kann sich da noch auflösen in den Eindruck, dass der ‚Grund‘, der hier die Rolle des Bezugssystems übernimmt, anschaulich durch die Figur ‚verdeckt‘ wird, also unter ihr hindurchgeht, so dass keine ‚doppelte Besetzung‘ desselben Raumgebiets zustande kommt. Der typische und reine Fall ist aber verwirklicht bei der Erscheinung des dreidimensionalen Dinges im Raum, wobei ebenfalls nur das Ding, aber nicht der Raum begrenzt wird, sodass diese tatsächlich durch das Ding hindurchgeht.“ (Metzger 2001, 142)  
 + 
 +====Nicht alles, was auffällt, ist Figur auf Grund==== 
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 +In den Gesetzen des Sehens (1975) wendet sich Metzger gegen eine unpräzise Verwendung der Figur-Grund-Begriffe. Er spricht vom „Figur-Grund-Verhältnis zweiten Grades“, wenn sich aus einer Menge artgleicher Glieder ein auffälliges heraushebt und den Blick auf sich zieht: „Die Menge der gleichartigen Glieder nimmt dabei ebenso eine Art von Grund-Charakter anIn manchen Arbeiten (z.B. von Ehrenstein) wird daher das auffallende Glied solcher Gruppen kurzerhand als ‚die‘ Figur bezeichnet. Doch ist dieser Sprachgebrauch unzweckmäßig. Es fehlt ein entscheidendes Merkmal des echten Figur-Grund-Verhältnisses: Der ‚Grund‘ geht hier nicht ununterbrochen hinter der ‚Figur‘ vorbei. Man sollte daher besser von einheitlichen und uneinheitlichen Gruppen sprechen und von artgleichen und artverschiedenen Einzelgliedern.“ (51f) 
 + 
 +Auf derartige Fälle nimmt Metzger schon in seiner //Psychologie// Bezug: „Wenn man in einer Ansammlung unter sich gleichartiger, von einer einfärbigen Fläche abgehobener Gebilde ein vom Rest irgendwie abweichendes Gebilde ‚Figur‘ nennt (Ehrenstein 1928), liegt übrigens das Figur-Grund-Verhältnis ebenfalls schon verdoppelt vor; was bei der theoretischen Abhandlung dieser Fälle leicht übersehen wirdweil die beiden Systeme sich weitgehend decken. Ähnlich verwickelt ist das Figur-Grund-Verhältnis, wenn man einen basso continuo als Grund erlebt, auf dem die Melodie sich als Figur abzeichnet (Ehrenstein 1942258ff).; hier besteht sowohl der ‚Grund‘ als auch die ‚Figur‘ schon selbst aus zahlreichen, sich von dem ‚eigentlichen‘, ‚letzten‘ Grund (der Stille) absetzenden Einzelfiguren: den einzelnen Klängen oder gebundenen Klanggruppen.“ (Metzger 2001, 149f) 
 + 
 +Man kann also nicht einfach davon ausgehen, dass die Figur-Grund-Gliederung in jeder gegebenen Situation das Bezugssystem des gerade ablaufenden Geschehens ist. Es geht vielmehr immer um die Klärung, welches Bezugssystem gerade in der Wahrnehmung und im Erleben bestimmend ist. Die in der Literatur häufig vorzufindende Verallgemeinerung des Figur-Grund-Prinzips ist deshalb falsch. Alles anschaulich Gegebene (und das sind nicht nur Sachverhalte des Sehens) hat ein Bezugssystem (oder auch mehrere)dieses Bezugssystem ist aber nur in besonderen Fällen das Figur-Grund-System und – wie oben gezeigt wurde – nicht immer das der Situation angemessene.  
 + 
 +====Vergleich mit der Gestalttherapie-Theorie====  
 + 
 +Vereinfacht und zugespitzt kann man die Figur/Grund-Auffassung in der [[gestalt-therapie|Gestalttherapie]]-Theorie und in der Gestaltpsychologie in drei Punkten zusammenfassen : 
 + 
 +1In der Gestalttherapie-Literatur ist die Figur-Grund-Bildung das Prinzipnach dem [[gestalt|Gestalten]] entstehen (z.B. „Gestalt wird in der Gestalttherapie als Dynamik des Hervortretens einer Figur vor einem Hintergrund dargestellt.“ Fuhr 2000, 242). In der [[gestalttheorie_gestaltpsychologie|Gestaltpsychologie]] dagegen wird die Entstehung, Veränderung und Aufrechterhaltung von Gestalten auf [[tendenz_zur_guten_gestalt|Selbstordnungstendenzen]] in der belebten und unbelebten Natur zurückgeführt; dabei können sich unter anderem auch Figur-Grund-Phänomene in der Wahrnehmung ergeben, diese sind aber weder die Ursache noch das Wesen der Gestaltbildung. 
 + 
 +2. In der Gestalttherapie-Theorie wird die Figur (für sie gleichbedeutend mit Gestalt) durch das gerade aktuelle Bedürfnis und die damit verbundene Aufmerksamkeit erzeugt; sie verschwindet mit der Befriedigung dieses Bedürfnisses. 
 +In der Gestaltpsychologie ist die Figur nicht gleichbedeutend mit Gestalt. Zwar haben manche Gestalten auch die [[gestalteigenschaften_arten|Gestaltqualität]] des FigurhaftenGestalten sind aber nicht auf diese Fälle beschränkt. Nach Auffassung der Gestaltpsychologie werden Gestalten auch weder durch die Aufmerksamkeit noch durch die Bedürfnisse erzeugt. Vielmehr richten sich Aufmerksamkeit und Bedürfnisse auf bereits vorgefundene Gestaltendie durch Aufmerksamkeit und Bedürfnisse hervorgehoben und manchmal auch deutlich verändert, aber eben nicht erschaffen werden. 
 + 
 +3. In der Gestalttherapie-Literatur wird das Figur-Grund-Prinzip in einer Interpretation, die weder mit den Forschungen von Edgar Rubin noch mit der Gestaltpsychologie vereinbar ist, zu einer Art Generalprinzip menschlichen Erlebens und Verhaltens gemacht. Diese spezielle Figur-Grund-Auffassung ist in der Gestalttherapie-Theorie daher auch tragend für die diversen Kontaktzyklusmodelle und andere Therapiekonzepte. 
 +In der Gestaltpsychologie hingegen nimmt das Figur-Grund-Verhältnis einen wesentlich bescheideneren Platz ein. Erstens spielt es nur dort eine Rolle, wo es tatsächlich um „Übereinander-Liegendes“ und nicht um „Nebeneinander-Liegendes“ oder in anderer Weise aufeinander Bezogenes geht. Zweitens ist es auch im erstgenannten Fall nur eines von mehreren möglichen oder tatsächlichen Bezugssystemen. Wer nur in Figur/Grund-Qualitäten wahrnehmen und erleben kann, wäre in einem bedenklichen Zustand: Ob sich beispielsweise jemand als Teil einer Gruppe erlebt oder die Gruppe nur als Grund für sich selbst als Figur, macht einen großen Unterschied. In Momenten existenzieller Gefahr kann seine Welt vielleicht in letzterer Form organisiert sein, ansonsten würde man eine solche Figur-Grund-Organisation wohl eher als bedenklich ansehen müssen.  
 + 
 +Daraus ergeben sich dann auch in der Psychotherapie entsprechende Aufgaben, an einer konstruktiven Veränderung solcher Bezugssysteme zu arbeiten.
  
 ====Literatur==== ====Literatur====
-  * GottschaldtKurt (1933): //Der Aufbau des kindlichen Handelns//. LeipzigBarth+  * DunckerKarl (1928): Über induzierte Bewegung. //Psychologische Forschung, 12//. 
-  * MetzgerWolfgang (1975): [[http://www.oeagp.at/cms/uploads/mitglieder_download/Metzger1975WasistGestalttheorie.pdf|Was ist Gestalttheorie?]] In: Kurt Guss (Hrsg.), //Gestalttheorie und Erziehung//. DarmstadtSteinkopff1-19+  * Ehrenstein, Walter (1928)Untersuchungen über Bewegungs- und Gestaltwahrnehmung. III. Mitteilung. //Archiv für Psychologie, 66//
-  * Metzger, Wolfgang (2001): //Psychologie Die Entwicklung ihrer Grundannahmen seit der Einführung des Experiments//. 6. Auflage. Wien: Krammer. +  * EhrensteinWalter (1942): //Beiträge zur ganzheitspsychologischen Wahrnehmungslehre//. Leipzig. 
-  * Metz-Göckel, Hellmuth (2008): Einführung in die Gestaltpsychologie Klassische Annahmen und neuere ForschungenInHMetz-Göckel (Hrsg.), //Gestalttheorie aktuellHandbuch zur Gestalttheorie Band 1//, Wien: Krammer, 15-37.+  * Fuchs, Thomas (2020): [[https://www.academia.edu/46664822/|Vom Miteinander, Gegeneinander und Nebeneinander in der Therapie. Anmerkungen zu Struktur und Dynamik der therapeutischen Beziehung]]. //Phänomenal, 12//(2), 17-26. 
 +  * Fuhr, Reinhard (2000): Gestaltbegriff. In: Stumm, Gerhard & Alfred Pritz (Hrsg.) //Wörterbuch der Psychotherapie//. Wien/New York: Springer242. 
 +  * Heider, Fritz (1927/2005): //Ding und Medium. Mit einem Vorwort von Dirk Baecker//. BerlinKulturverlag Kadmos. 
 +  * KoffkaKurt (2008/1925): //Zu den Grundlagen der Gestaltpsychologie. Ein Auswahlband herausgegeben von Michael Stadler//. Wien: Verlag Wolfgang Krammer. (-> bei der ÖAGP zu bestellen: [[info@oeagp.at]]) 
 +  * Linschoten, J. (1952): Experimentelle Untersuchung der sogenannten Induzierten Bewegung. //Psychologische Forschung, 24.// 
 +  * Metzger, Wolfgang (1950): Zum gegenwärtigen Stand der Psychophysik. In: //Gestaltpsychologie. Ausgewählte Werke aus den Jahren 1950 bis 1988. Herausgegeben und eingeleitet von Michael Stadler und Heinrich Crabus//. Frankfurt/Main: Kramer.  
 +  * Metzger, Wolfgang (1966): Figural-Wahrnehmung. In: //Handbuch der Psychologie, Bd.1, 1. Halbband//. Göttingen: Hogrefe, 693–744. 
 +  * Metzger, Wolfgang (1975): //Gesetze des Sehens. Die Lehre vom Sehen der Formen und Dinge des Raumes und der Bewegung//. Dritte, völlig überarbeitete Auflage. Frankfurt/Main: Kramer
 +  * Metzger, Wolfgang (2001): //PsychologieDie Entwicklung der Grundannahmen seit der Einführung des Experiments//. 6. Auflage. Wien: Verlag Wolfgang Krammer. (-> bei der ÖAGP zu bestellen: [[info@oeagp.at]]) 
 +  * Metz-Göckel, Hellmuth (2014): [[http://metz-goeckel.com/dat/MG_Bezugsphaenomene.pdf|Über Bezugsphänomene: Wie ein Sachverhalt durch den Bezug auf einen Anderen seine besonderen Merkmale erhält – Gestalttheoretische Grundlagen und Anwendungen im Bereich der Kultur und Sprache]]//Gestalt Theory, 36//(4), 355–386. 
 +  * Rubin, Edgar (1921)//Visuell wahrgenommen FigurenStudien in psychologischer Analyse//. Kopenhagen/Berlin/London: Gyldendalske Boghandel. 
 +  * Stemberger, Gerhard (2010): [[https://www.academia.edu/32996682/|Gestalttheoretische Kritik an Konzeptionen der Gestalt-Therapie]]. //Phänomenal, 2//(1), 51-53. 
 +  * Stemberger, Gerhard (2022): Die schwierige Klientin: Eine fragwürdige Figur. Ein gestalttheoretisch-psychotherapeutischer Kommentar. //Phänomenal14//(1), 27-32. 
 +  * Sternek, Katharina (2020): [[https://www.academia.edu/46661347/|Bezugssystem. Lexikon zur Gestalttheoretischen Psychotherapie]]. //Phänomenal12//(2), 57–59. 
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 +---------------- 
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 +{{:img_20170620_0001.jpg?200 |}}  
 + 
 +**Das klassische Grundlagenwerk zur Gestalttheorie** 
 + 
 +**Wolfgang Metzger:  
 + 
 + 
 +Psychologie.  
 + 
 +Die Entwicklung ihrer Grundannahmen seit der Einführung des Experiments**  
 + 
 +Wien: Verlag Wolfgang Krammer 
 + 
 +ISBN 978 3 901811 07 9 | 407 Seiten | Preis 45,00 Euro 
 + 
 +[[mailto:info@oeagp.at|Nun direkt bei der ÖAGP-Geschäftsstelle zu beziehen]] 
 + 
 + 
 +</WRAP> 
  
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