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Abspaltung

Gerhard Stemberger

Schillernder Begriff mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen

Wenn im psychotherapeutischen Arbeitsfeld von Spaltungen und Abspaltungen die Rede ist, handelt es sich dabei um schillernde Begriffe, die mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen und Konzepten über das Wesen und das Zustandekommen der damit gemeinten Phänomene verbunden sind. Meist bezieht man sich dabei auf die Beobachtung, dass ein Mensch bestimmte Eigenschaften oder Handlungen, die ihm selbst zuzurechnen sind, gar nicht als die seinen erlebt und anerkennt, sondern von sich „abspaltet“ und „verdrängt“ oder sie auf andere „projiziert“ (siehe dazu „Projektion“). Eine andere Möglichkeit kann darin bestehen, dass er im Umgang mit anderen Menschen wiederum diese anderen „spaltet“, indem er sie beispielsweise nur in Schwarz/Weiß wahrnehmen kann, also z.B. alle positiv erscheinenden Eigenschaften und Handlungen von ihnen „abspaltet“ und nur die negativ bewerteten Eigenschaften und Handlungen als ihnen zugehörig wahrnimmt. Schließlich können Fälle gemeint sein, wo in ein und demselben Organismus mehrere Persönlichkeiten zu existieren scheinen, die unabhängig voneinander erlebt werden und im Extremfall nichts voneinander wissen.

Gestalttheoretisch: Teilgebiet der Ordnungs- und Zusammenhangsbildung im Psychischen

In solchen Fällen kann es sich geradezu aufdrängen, das damit verbundene Verhalten als irgendwie „verrückt“ oder „krank“ einzuordnen. Im Rahmen der Gestalttheorie wird eine solche krankheits- oder störungszentrierte Perspektive jedoch aus guten Gründen vermieden, weil sie vorschnell den Blick verengt und falsche Verallgemeinerungen begünstigt. Es gilt vielmehr, die Frage solcher „Abspaltungen“ als Teilgebiet des allgemeineren, übergeordneten Gebiets der Gesetzmäßigkeiten von Ordnungs- und Zusammenhangsbildungen zu begreifen:

Was in einem Gesamtsystem von einem seiner Teilsysteme ausgegliedert wird, verschwindet nicht, sondern wird Teil anderer Teilsysteme, ist also zugleich Auflösung des einen Zusammenhangs und Bildung eines anderen, neuen Zusammenhangs in einer neuen Ordnung des Gesamtsystems. Die dafür maßgeblichen Gesetzmäßigkeiten sind nach gestalttheoretischer Auffassung im gestörten wie im ungestörten Gesamtgeschehen die gleichen. Diesen allgemeinen Gesetzmäßigkeiten für die Bildung, Aufrechterhaltung und Auflösung von Zusammenhängen widmet sich Wolfgang Metzger eingehend im Kapitel „Das Problem des Zusammenhanges“ in seiner „Psychologie“ (Metzger 2001, 96-131) im Anschluss an seine Behandlung des „Problems der Ordnung“. Die Bedingungen und die Dynamik des Wirkens dieser Gesetzmäßigkeiten in Erleben und Verhalten der Persönlichkeit haben vor allem Kurt Lewin und seine MitarbeiterInnen erforscht.

Lewins Ansatz der Differenzierung und Abgrenzung seelischer Bereiche

Nach Lewins Feldtheorie differenziert sich der Lebensraum des Menschen (die Person ebenso wie ihre Umwelt) in verschiedene psychische Bereiche. Diese sind mehr oder weniger scharf voneinander abgegrenzt. Art und Grad der Differenzierung wie auch die Stärke der Grenzen zwischen einzelnen Bereichen sind nicht auf Dauer festgelegt, sondern ändern sich entsprechend der konkreten psychologischen Situation, in der ein Mensch gerade seine eigenen Vorhaben verfolgt oder bestimmten Anforderungen aus seiner Umwelt begegnet. Unter dem Gesichtspunkt der „Kommunikation“ zwischen verschiedenen psychischen Bereichen, also ihrer wechselseitigen Einwirkung, sind diese psychischen Grenzen dynamische „Wände“ (vgl. Lewin 1969, 141). Solche Wände und der Grad ihrer Durchlässigkeit bestimmen maßgeblich die Möglichkeiten des Austauschs und der wechselseitigen Beeinflussung zwischen der Person und ihren Mitmenschen, aber auch die wechselseitige Abhängigkeit zwischen verschiedenen Umweltbereichen und die zwischen den verschiedenen innerseelischen Bereichen der Person.

Funktion und Wirkung starker Abgrenzungen von Teilbereichen

Die Herausbildung relativ isolierter Bereiche oder Teilsysteme gehört zum natürlichen Ablauf dieser dynamischen Prozesse, genauso wie die Herausbildung stark zusammenhängender Bereiche oder Teilsysteme. So ist es beispielsweise wichtig für das Gelingen einer schwierigen Operation, dass im Lebensraum des Chirurgen für die Dauer der Operation alles, was zur Operation gehört, ein relativ stark gegenüber allen anderen psychischen Bereichen isoliertes Teilsystem bildet. Diese Isolierung ist nicht etwa mit der Fokussierung des Chirurgen gleichzusetzen; diese Fokussierung wird vielmehr selbst erst möglich, wenn erfasst wird, was zur Operation gehört und was nicht, und gegenüber allem, was nicht dazu gehört, eine dynamische Wand errichtet wird. Die Gestalttheorie geht in diesem Sinn davon aus, dass die wechselnden Zusammenhangsbildungen und die Stärke ihrer wechselseitigen Abgrenzung für sich genommen keine pathologischen Sachverhalte sind, sondern zur normalen Steuerungsfunktion der phänomenalen Welt des Menschen gehören (vgl. Stemberger 2015).

Ausgliederung von isolierten Teilsystemen

Ein Mensch kann jedoch in Lebenssituationen kommen, die bei ungenügender Bewältigung in Störungen münden. Diese können in der Ausgliederung von psychischen Bereichen zu isolierten Teilsystemen bestehen, die sich dann in mehr oder weniger starken Beeinträchtigungen des psychischen Gleichgewichts der betroffenen Person und seiner sozialen Beziehungen manifestieren. So kann es beispielsweise angesichts einer unerträglichen Konflikt-Situation zur „Abspaltung“ der eigenen Person vom Konflikt kommen, angesichts einer besonders schmerzlichen Situation zur „Abspaltung“ des Schmerzes von der eigenen Person, angesichts des Schuldig-Werdens zur „Abspaltung“ der schuldhaften Ereignisse vom eigenen Ich, angesichts einer Missbrauchserfahrung zur „Abspaltung“ dieser Erfahrung und des beteiligten Ich von weiter funktionierenden Bereichen des Ich usw. In solchen Fällen wird es zwar vielleicht zu mehr oder weniger heftigen oder gar chaotischen Akutsituationen kommen. Aber auch darin bricht die Alltagsbewältigung nicht dauerhaft zusammen, arbeitet die phänomenale Welt des Menschen als Steuerungsorgan durchaus geordnet, sinnvoll und funktional nach den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und den konkreten Erfordernissen der Gesamtlage. So mag es im engsten situativen Sinn für die betroffene Person gerade sinnvoll und zwingend notwendig sein, sich durch Abspaltungen eine einigermaßen lebbare Situation zu schaffen. In einem situationsübergreifenden und intersubjektiven Zusammenhang allerdings wird sich ihr Erleben und Verhalten demgegenüber als wenig sinnvoll, möglicherweise sogar als selbstzerstörerisch und fremdschädigend präsentieren.

Isolation eines Teilsystems im Sinne einer Abspaltung

Mit der Isolation eines Teilsystems der Persönlichkeit im Sinne einer Abspaltung können im ungünstigen Fall spezifische Gefahren verbunden sein: Wie schon der Wortsinn des Begriffs Abspaltung nahe legt, handelt es sich um einen Vorgang, bei dem Zusammengehöriges nicht etwa weitere Untergliederungen im Sinn einer Ausdifferenzierung durchläuft, sondern der Zusammenhang eines Teils dieses Ganzen zu diesem mehr oder weniger gewaltsam aufgelöst wird. Der dann abgespaltene Bereich ist nicht mehr Teil des vorher bestehenden Zusammenhangs.

So kann beispielsweise jemand eine Tat begangen haben, womit Ich und Tat verbunden sind. Ist dies aus irgendwelchen Gründen unerträglich, kann es zur Abspaltung der Tat vom Ich kommen. Beide haben dann nichts mehr miteinander zu tun – die Tat gehört ab nun zu jemand anderem oder auch zu niemandem mehr, weil sie ihren Charakter verändert hat, von der Tat zum schicksalhaften Ereignis. Da aber in vielen Fällen sowohl aus dem Person-Bereich selbst, als auch aus dessen Umwelt ständig Hinweise kommen, die auf den ursprünglichen Zusammenhang hinweisen und die Abspaltung in Frage stellen, ist eine immer stärkere Isolierung erforderlich. Damit verfestigt sich die Isolierung des Teilsystems, das unter sehr hoher Spannung steht, immer weiter. Diese Spannung erhöht sich wiederum durch die ständigen Rückkoppelungsprozesse und erzwingt einen entsprechenden Ausbau der Wandstärke des Teilsystems. Ein Teufelskreis ist entstanden. Das isolierte Teilsystem kann so immer mehr Energie aufsaugen und den Lebensvollzug des Betroffenen immer mehr beeinträchtigen. Das wird in der Regel vor allem seine Fähigkeit vermindern, in sachlicher Haltung konstruktive Beziehungen in einer Gemeinschaft zu pflegen und die Aufgaben zu erfüllen, vor die ihn sein Leben stellt.

„Neurotische Spaltung der Persönlichkeit“

Dies ist auch das Wesen der so genannten „neurotischen Spaltung der Persönlichkeit“, zu der sich solche Entwicklungen unter ungünstigen Bedingungen steigern können. In extremen Fällen kann sich eine derartige Isolierung von Teilsystemen sogar bis zur Ausgliederung eigener verselbständigter Teilpersönlichkeiten verschärfen: Paul Tholey verweist hier auf die so genannte „Multiple Personality Disorder“, wo längere psychische Isolation nach einer Traumatisierung erst zur Abspaltung des leidenden Teils der Persönlichkeit als eigene, erst nicht bewusste Persönlichkeit, und dann zu weiteren Abspaltungen führt (Tholey 2002).

In der psychotherapeutischen Praxis hat man es allerdings selten mit solch extremen Ausprägungen zu tun. Häufiger werden sich mehr oder weniger isolierte Teilsysteme im Person- oder Umweltbereich bemerkbar machen, die in frühzeitig aufgezwungenen oder anderweitig erworbenen lebensfremden oder gar lebensfeindlichen Leitsätzen oder Zielsetzungen bestehen, aus Vermeidungsbestrebungen entspringen oder dem Bestreben nach Aufrechterhaltung von Selbstschutz oder von Schutz bestimmter Beziehungen oder Lebenskonstellationen. Auf der anderen Seite werden sich mehr oder weniger isolierte Teilsysteme im Person- oder Umweltbereich zeigen, die sich als Ressource für Problemlösungen anbieten, wenn sie entsprechend „befreit“ werden (beispielsweise ein „abgespaltenes“ Aggressionsbedürfnis, das als konstruktives Bestreben nach aktiver geistiger und tätiger Auseinandersetzung mit der Welt zurückgewonnen wird).

Psychotherapeutischer Umgang mit Abspaltungen

Ob solche Abspaltungen bei den angetroffenen Lebensschwierigkeiten eines hilfesuchenden Menschen eine Rolle spielen und welche Rolle das ist, muss in einer Psychotherapie erst im Gesamtkontext des Lebens des Klienten verstanden werden – und zwar von beiden Seiten. Eine stabile und vertrauensvolle therapeutische Beziehung ist dafür unabdingbar, geht es dabei doch oft um sehr schmerzliche, beängstigende oder schambesetzte Dinge. Erst auf dieser Grundlage kann von den verschiedenen therapeutischen Techniken und Arbeitsweisen angemessen Gebrauch gemacht werden, die die Neigung und Fähigkeit des Menschen zu derartigen Ausgliederungen direkt ansprechen. Hierher gehören alle Arbeitsweisen, bei denen im Erleben des Klienten bereits vorgefundene oder durch bestimmte Interventionsformen erst induzierte Personifizierungen isolierter Teilsysteme miteinander in Spiel- oder Dialogform in Kontakt gebracht werden (vgl. dazu Kästl 2014, Stemberger 2014). Weiters können hier die Leitideen für den konstruktiven Umgang mit Traumfiguren angeführt werden, die aus der gestalttheoretischen Klartraumforschung von Paul Tholey und KollegInnen gewonnen wurden (vgl. Tholey 1981); da Traumfiguren häufig isolierte Teilsysteme derselben Gesamtpersönlichkeit in personifizierter Form darstellen, lassen sich diese Erkenntnisse sinnvoll auch auf andere Kontexte verallgemeinern, wo entsprechende Aufspaltungen ins Spiel kommen.

In der psychotherapeutischen Arbeit an Abspaltungen wird als Zielsetzung meist die „Integration“ dieser (teil-)isolierten Bereiche verfolgt. Ziel kann aber auch eine effizientere Trennung, eine Verbesserung der Durchlässigkeit oder der Standfestigkeit der Wände oder jede andere Art einer konstruktiveren Beziehung zwischen den beteiligten Bereichen sein.

Zugehörige Begriffe:

  • Abwehrmechanismen
  • Spannungssystem
  • Verdrängung

Literatur:

Kästl, Rainer (2014): Überlegungen zu zwei Interventionstechniken und ihren Zielen: Szenische Darstellung und Dialog mit dem leeren Stuhl. Phänomenal - Zeitschrift für Gestalttheoretische Psychotherapie, 6(1), 17-19.

Lewin, Kurt (1969): Grundzüge der topologischen Psychologie. Bern, Stuttgart, Wien: Hans Huber. (Deutsche Fassung der englischen Originalausgabe 1936, Principles of Topological Psychology, New York: McGraw-Hill.

Metzger, Wolfgang (20016): Psychologie. Die Entwicklung ihrer Grundannahmen seit der Einführung des Experiments. 6. Auflage. Wien: Krammer.

Stemberger, Gerhard (2014): Gestalttheoretische Aspekte der „Arbeit mit dem leeren Stuhl". Phänomenal, 6(1), 30-38.

Stemberger, Gerhard (2015): Ich und Selbst in der Gestalttheorie. Phänomenal 7(1), 19-28.

Tholey, Paul (1981): Empirische Untersuchungen über Klarträume, Gestalt Theory 3(1), 21-62.

Tholey, Paul (2002): Die Thesen von Ruh/Schulte im Lichte des Verständnisses der ”Multiple Personality Disorder”. In: G. Stemberger, (Hrsg.): Psychische Störungen im Ich-Welt-Verhältnis. Wien: Krammer, 101-103.

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